NACH OBEN

Bochumer Historikerpreis

Preisträger 2005: Jürgen Kocka
2005 Jürgen Kocka Historikerpreis Sgr

Kocka hat seit den 1970er Jahren zu den führenden Persönlichkeiten einer jüngeren Historiker-Generation gehört, die das Gefüge der deutschen akademischen Geschichtswissenschaft und ihrer Außenwirkung nachhaltig veränderte. 1941 geboren, wurde er 1968 an der Freien Universität Berlin bei Gerhard A. Ritter mit einer grundlegenden Untersuchung über Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft bei Siemens promoviert. Bis heute gilt dieses Werk als eine Pionierstudie auf dem Gebiet der Unternehmensgeschichte. Als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster habilitierte sich Kocka 1972 mit einer vergleichenden Untersuchung zur „Politischen Sozialgeschichte“ der Angestellten in den USA und übernahm 1973 die Professur für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte an der eben gegründeten Universität Bielefeld.
Noch 1972 war eine methodisch hochreflektierte Untersuchung über die deutsche „Klassengesellschaft“ im Ersten Weltkrieg erschienen; es folgten nunmehr in rascher Folge Aufsätze und Bücher, in denen das in Deutschland neue Feld der Sozialgeschichte theoretisch und methodisch ausgebreitet wurde. Das machte Kocka, in langjähriger Zusammenarbeit mit Hans-Ulrich Wehler, für zwei Jahrzehnte zum führenden Kopf der so genannten „Bielefelder Schule“, die als geschichtswissenschaftliche Erneuerung rasch internationales Aufsehen erregte. In Bielefeld leitete Kocka zeitweilig das Zentrum für interdisziplinäre Forschung, regte zahlreiche Untersuchungen von Schülern zur Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts an und formte maßgeblich den berühmt gewordenen Bielefelder Sonderforschungsbereich über die „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“. Er widmete sich zugleich der Geschichte der Arbeiter während der Industrialisierung und veröffentlichte hierzu bisher zwei einschlägige Bände. Die Forschung verdankt ihm außerdem eine Geschichte der deutschen Unternehmer, ein lange die Proseminare beherrschendes Buch zur Grundlegung der modernen Sozialgeschichtsschreibung und zahlreiche Sammelbände über Arbeiter und Bürger, die europäische Zivilgesellschaft und die deutsch-deutsche Vereinigungskrise. 1998 trat er eine neu geschaffene Professur zur Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin an. Er wirkte hier maßgeblich in der Neuordnung der hauptstädtischen Geschichtswissenschaft mit, schuf etwa das Zentrum für vergleichende Geschichte Europas und wurde im Jahre 2000 Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (WZB), einer der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Europas. Sein internationales Renommee wird durch drei Ehrendoktorhüte, zahlreiche Mitgliedschaften in Akademien und durch die Präsidentschaft des internationalen Historikerverbandes unterstrichen.

Kocka ist ein „public historian“ im besten Sinne. Er hat sich, wägend und ordnend, zu Problemen der Vergangenheitsbewältigung und der Geschichtspolitik, zur Problematik des deutschen Nationalstaates und jüngst vermehrt zum Wandel der Erwerbsarbeit auch in der Gegenwart geäußert. Er begreift Geschichtswissenschaft als ein wesentliches Moment gesellschaftlicher Selbstaufklärung, und das bezeichnet seine Herangehensweise an die Besonderheiten deutscher Geschichte, deren Interpretation er durch einsichtsvolle Kommentare zur Debatte um den deutschen „Sonderweg“ über Jahrzehnte zu bereichern wusste.

Der Bochumer Historikerpreis wird, unter der Schirmherrschaft des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, von der Ruhr-Universität Bochum, der Stadt Bochum, der Stiftung der Sparkasse Bochum und der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets verliehen. Er ist mit 25.000 € dotiert; die öffentliche Preisverleihung findet anlässlich des Stiftungsfestes der Stiftung Geschichte des Ruhrgebiets am 25. November 2005 in Bochum statt.

von Werner Plumpe, Frankfurt am Main

Jürgen Kocka ist einer der international bekanntesten deutschen Historiker. Auf dem Feld der Unternehmens- und der modernen Sozialgeschichte von Arbeiterschaft und Bürgertum wirkte er stilbildend. Dabei prägte er entscheidend eine der einflussreichsten Forschungsrichtungen der deutschen Geschichtswissenschaft, die moderne Sozialgeschichte, die auch einen neuen Zugang zu den Ursachen und Folgen der Katastrophen des 20. Jahrhunderts suchte und damit ausdrücklich zur zivilgesellschaftlichen Selbstaufklärung der Bundesrepublik Deutschland beitragen wollte.
1941 als Sohn eines Ingenieurs in Böhmen geboren, in Linz und Essen aufgewachsen, studierte Jürgen Kocka ab 1960 Geschichte, Politikwissenschaft, Philosophie und Germanistik in Marburg, Wien und an der Freien Universität Berlin sowie in Chapel Hill/North Carolina, wo er 1965 den Grad des Master of Political Science erwarb. Früh kam Jürgen Kocka in Kontakt mit Gerhard A. Ritter, bei dem er 1969 an der FU Berlin promoviert wurde. Kockas Dissertation über die Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft bei Siemens gilt noch immer als Pionierstudie auf dem Gebiet der makrotheoretisch orientierten Unternehmensgeschichte. Mit Bezug auf die Organisationssoziologie und auf Max Webers Bürokratieansatz analysierte Kocka den Prozess innerer Bürokratisierung von Unternehmen im Übergang zur industriellen Großproduktion. In Anlehnung an die Kategorien Webers, aber auch in kritischer Differenzierung ihrer Grundannahmen, zeichnete die Arbeit die Veränderungen des kapitalistischen Industrieunternehmens im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert in ihren Auswirkungen auf die betrieblichen Herrschafts- und Organisationsverhältnisse, die Entstehung und Durchsetzbarkeit von Unternehmerentscheidungen, Produktion und Marktverhalten sowie auf Funktion und Situation des Personals nach.
Bereits Kockas Dissertation verwies auf die Grundlinien seiner weiteren wissenschaftlichen Arbeit. Zentral waren und blieben die Auseinandersetzungen mit Max Weber und seiner angloamerikanischen Weiterentwicklung einerseits und mit den insbesondere über die Frankfurter Schule weitergegebenen Traditionslinien des Marxismus andererseits. Stark beeinflusst durch Jürgen Habermas, Hans Rosenberg sowie Hans-Ulrich Wehler und als Mitglied im „Arbeitskreis für moderne Sozialgeschichte“, gehörte Jürgen Kocka bald zu den Impulsgebern einer Geschichtswissenschaft unter sozialgeschichtlichen Vorzeichen, die sich kritisch zu den etablierten Hauptlinien der eigenen Fachtradition und der bestehenden Gesellschaftsordnung begriff und Verknüpfungen zu den systematischen Nachbarwissenschaften suchte. Vor dem Hintergrund der zentralen Fragestellung nach den sozialen Vorraussetzungen und Folgen von Politik und Ideen entwickelte die moderne Sozialgeschichte ein besonderes Interesse an den Prozessen und Strukturen, die in den Motiven, Vorstellungen und Erfahrungen der Zeitgenossen nicht präsent waren, denen aber als Bedingungen und Folgen von Erfahrungen und Handlungen entscheidende Bedeutung zukam. Kocka gab mehrere grundlegende Sammelbände zur theoretischen Auseinandersetzung mit den Konzepten der historischen Sozialwissenschaft und Gesellschaftsgeschichte heraus. Seit 1975 fungiert er als Mitherausgeber der Zeitschrift „Geschichte und Gesellschaft“ und der Bielefelder Schriftenreihe „Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft“. Seine Habilitationsschrift zur Geschichte der Angestelltenschaft in den USA erweiterte sein ohnehin breites methodisches und theoretisches Spektrum um den internationalen Vergleich. Dieser Perspektive seiner Arbeiten waren zahlreiche Auslandsaufenthalte geschuldet: Während seiner Habilitation absolvierte Kocka ein Fellowjahr an der Harvard University, später folgten Gastprofessuren und Forschungsaufenthalte in Princeton (1975/1976), Chicago (1984), Jerusalem (1985), New York (1990), Budapest (1992/1993), Stanford (1994/1995), Paris (1996), Wassenaar (2000) und Oxford (2004/05).
Nach der Schwerpunktsetzung im Bereich der Unternehmens- und Angestelltengeschichte widmete sich Kocka während seiner Professur in Bielefeld von 1973 bis 1988 insbesondere zwei Themenkomplexen: der Bürgertumsforschung und der Arbeitergeschichte. Letztere war Gegenstand von zwei seiner zentralen Arbeiten: Im Rahmen der groß angelegten „Geschichte der Arbeiter und der Arbeiterbewegung in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts“ legte Kocka zunächst zwei Bände vor, die die Zeit zwischen 1800 und 1875 abdeckten. Der erste Band untersuchte die nicht-ständischen Unterschichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts und die auf die Veränderung ihrer Arbeitssituation und Lebensweise hinwirkenden sozialen, politischen und wirtschaftlichen Kräfte. In differenzierender Auseinandersetzung mit dem Klassenbegriff, den er bereits in seiner 1973 erschienenen Studie „Klassengesellschaft im Krieg“ einer kritischen Würdigung unterzogen hatte, arbeitete Kocka Vorstufen einer klassenbewussten Lohnarbeiterschaft heraus. Mit Hilfe des gedanklichen Gerüsts eines Verlaufsmodells der Klassenbildung auf Basis der Ständegesellschaft und unter den Zwängen des Modernisierungsprozesses beschrieb Kocka im zweiten Band die Herausbildung der Arbeiterklasse mittels Durchsetzung der Lohnarbeit und der Proletarisierung. Er identifizierte die entscheidenden Merkmale der entstehenden Arbeiterklasse und beobachtete auch quer zu den Klassenunterschieden entfaltete Probleme wie Geschlechterdifferenzen und Alltagskulturen. Ein dritter Band, der die großen Linien der Geschichte der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert zusammenfassen wird, steht vor der Vollendung.
Als Direktor des Bielefelder „Zentrums für interdisziplinäre Forschung“ (1983-1988) konfigurierte Jürgen Kocka schließlich die inhaltlichen und methodischen Vorgaben des Sonderforschungsbereichs „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“, der bis 1997 von der DFG finanziert wurde. Interessiert an den großen Linien der „Vergesellschaftlichung“, ging das Projekt von einer zentralen Rolle des Bürgertums in den Modernisierungsprozessen seit dem späten 18. Jahrhundert aus und suchte so die These vom „deutschen Sonderweg“ mit den spezifischen Schwächen des deutschen Bürgertums zu untermauern. Zahlreiche Einzelstudien untersuchten im Rahmen des Forschungsverbunds die Entwicklung des Bürgertums, sein Verhältnis zu anderen Schichten sowie seinen inneren Zusammenhalt, der es rechtfertigt, vom Bürgertum als übergreifende Kategorie zu sprechen. In konsequenter Fortentwicklung seiner Forschungen zur Bürgertumsgeschichte gilt ein wesentliches Interesse Kockas in neuerer Zeit der „Geschichte der Zivilgesellschaft“, die auf den Raum gesellschaftlicher Selbstorganisation zwischen Staat, Markt und Privatsphäre fokussiert und sich als normatives Konzept insbesondere durch den Rekurs auf die Individuen auszeichnet. Kocka gilt als einer der einflussreichsten Mentoren dieses jungen historischen Forschungsfeldes, das – wie es für die Arbeit Kockas typisch ist – erneut eine stark vergleichende Perspektive einnimmt. Institutionell verankert Kocka diese Forschungsrichtung aktuell vor allem am „Wissenschaftszentrum für Sozialforschung“ in Berlin (WZB), dessen Präsident er seit 2000 ist. Kocka übt diese Funktion in Verbindung mit der 1988 angetretenen Professur an der FU Berlin aus. Als erster Historiker an der Spitze der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtung Europas stellt Kocka hier erneut seinen interdisziplinären Anspruch unter Beweis. Diesem war auch die maßgeblich von ihm initiierte und aus dem an ihn verliehenen Leibniz-Preis finanzierte Gründung der „Arbeitsstelle für Vergleichende Gesellschaftsgeschichte“ geschuldet, aus der 1997 das „Zentrum für Vergleichende Geschichte Europas“ in Berlin hervorging. Als Mitbegründer des „Zentrums für Zeithistorische Forschungen in Potsdam“ und Autor zeitkritischer Studien gehörte Kocka zu den maßgeblichen Wegbereitern des Zusammenwachsens der Wissenschaftslandschaften in Ost und West. Ehrungen unterschiedlichster Art brachten ihm für diese zahlreichen Aktivitäten auch den gebührenden öffentlichen Lohn, der zudem auf einen weiteren Punkt verweist: die Rolle Kockas als „public historian“, wie ihn seine Schüler in einer zu seinem 60. Geburtstag herausgegebenen Sammlung seiner journalistischen Texte bezeichnen. Als Wissenschaftler, Wissenschaftsmanager und nicht zuletzt als Präsident des Comité International des Sciences Historiques (CISH) hat er immer wieder in öffentliche Debatten der letzten beiden Jahrzehnte eingegriffen. Insbesondere zu Fragen der Vergangenheitsbewältigung und Geschichtspolitik, zum deutschen Nationalstaat und zum Wandel der Erwerbsarbeit hat er dezidiert Stellung genommen und eine erinnernde und analytische Beziehung zur Vergangenheit eingefordert.
Mit Jürgen Kocka wird daher ein Historiker ausgezeichnet, der die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung, ja, die gesamte Geschichtswissenschaft der vergangenen vierzig Jahre maßgeblich geprägt hat. Dabei sind für ihn nicht allein die hohe Produktivität und die theoretische und methodische Innovationskraft kennzeichnend; Jürgen Kocka ist auch im positiven Sinne stets ein „politischer“ Historiker gewesen, der Geschichtswissenschaft als wesentliches Moment gesellschaftlicher Selbstaufklärung begreift. Diese Selbstaufklärung war in den vergangenen Jahrzehnten eng an die Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Zeit gebunden, die, wenn auch nicht explizites Thema von Kockas Arbeiten, doch stets ihr normativer Angelpunkt blieb. Diese Orientierung - der Anspruch, das zugleich moderne wie katastrophale 20. Jahrhundert, dessen Teil man ja selbst gewesen ist, zu durchdringen, kennzeichnet die „moderne Sozialgeschichte“: historisches Begreifen, um gerade nicht zu wiederholen. Mit dieser expliziten Zeitgenossenschaft ist man stets in der Gefahr, auch deren Fehler zu teilen. Aber Jürgen Kocka hat die Wiederkehr der Geschichte mit Mauerfall und Wiedervereinigung als neue Herausforderung gesehen und die Zeitgenossenschaft noch einmal erneuert. Insofern ist er nicht bei dem „Aufbruch“ der 1960er Jahre stehen geblieben, sondern hat auch die Probleme eines zusammenwachsenden Europas und einer globalisierten Welt auf ihre zivilgesellschaftliche Dimension und Tragfähigkeit hin befragt. Die eigentümliche Widersprüchlichkeit von Teilhabe und kritischer Distanz macht den Kern der „politischen“ Geschichtswissenschaft des Jürgen Kocka aus. Sie sorgt dafür, dass die Wissenschaft nicht den Forderungen des Tages untergeordnet wird, aber eben auch dafür, dass der Historiker seiner gesellschaftlichen Rolle gerecht wird. Dies ist, so glauben wir, aller Ehren wert.

Alles selber machen
Jürgen Kocka erhält den Bochumer Historikerpreis

Von Andreas Rossmann

Als der Bochumer Historikerpreis 2002 zum ersten mal verliehen wurde, hatte sich zu seiner festlichen Übergabeauch der damals frischgebackene Ministerpräsident Peer Steinbrück angekündigt, doch dann - nein, nicht seine neue Wissenschaftsministerin, sondern "nur" einen Staatssekretär in Vertretung geschickt (FAZ vom 18.11.2002). Drei Jahre später, in Düsseldorf wie in Berlin stellt inzwischen die CDU den Regierungschef, muss sich die Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets nicht mehr damit abfinden, links liegen gelassen zu werden: Zur zweiten Vergabe der mit 25.000 Euro dotierten und für "herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Sozial- und Wirtschaftsgeschichte" ausgelobten Auszeichnung , die Jürgen Kocka zuerkannt wurde, machte Bundestagspräsident Norbert Lammert, der in Bochum zu Hause ist, seine Aufwartung, und die Landesregierung bot mit Andreas Pnkwart ihren Innovationsminister auf. Die "rote", wesentlich aus Gewerkschaftsbeständen erwachsene Einrichtung erfreut sich unter Nichtgenossen offenbar der höheren Wertschätzung, und das - Nota bene - sogar außerhalb des Wahlkampfs.

Was wissenschaftspolitisch daraus folgt, steht wohl auf einem ganz anderen Blatt. Der FDP-Politiker Pinkwart jedenfalls nutzte seinen Auftritt im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets vor allem dafür, einmal mehr und in den bekannten parteiprogrammatischen Schlagworten "unser Ziel" einer "unternehmerischen Hochschule" an die Wand des Lesesaals zu malen, die "public-private-partnerships" eingeht und mit Erfindungen und Patenten "möglichst effizient" Verwertungschancen nutzt. Dem Ort und seiner Eigenheit wurde dabei nicht weiter Rechnung getragen, vielmehr einfach so getan, als könne ein sozialhistorisches Institut dabei genauso marktbewusst und merkantil operieren wie eines der Pharmazie oder Elektrotechnik. Dem Verfahren einer umfassenden Deregulierung, nach der - so Pinkwart - "der Ruf der Bürger immer lauter werde", wird dabei ungeachtet der Inhalte Priorität eingeräumt und die Gesamtheit der Geisteswissenschaften, unter dem Anschein der Gleichbehandlung, der Marginalisierung ausgeliefert.

Wie diese sich dagegen verwahren oder behaupten kann, ist auch eine Frage der Selbstdarstellung und mithin der Sprache. Der Frankfurter Wirtschaftshistoriker Werner Plumpe, dem die Laudatio aufgegeben war, hielt sich aber so beflissen und buchhalterisch an die Daten von Biographie und Bibliographie, Campus und Karriere, als ging es darum, für das Munzinger-Archiv eine erweiterte Fassung zu erstellen: Die wissenschaftlichen Stationen, die wichtigsten Publikationen, Auseinandersetzungen und Traditionslinien, Herausgeberschaften und Gastprofessuren, Forschungsschwerpunkte und -projekte, Selbstverständnis und öffentliche Rolle - nichts wurde ausgelassen aber auch nichts ausgeführt, und es blieb die Darstellung ohne jede persönliche oder irgendwie originelle Note. So viel es dem Gelehrten zu, selbst für die Ehrung gebührend einzustehen. Dem an der Freien Universität Berlin lehrenden Historiker gelang das mühelos, nutzte er seine "Sozialgeschichte im Zeitalter der Globalisierung" überschriebene Preisrede doch für eine breit angelegte Reflexion über sein Fach, dessen Konjunkturen und Ausrichtungen. Wie dabei gerade der Sozialhistoriker mit der Globalisierung an seine - auch methodischen Grenzen stößt, legte Kocka ausgiebig dar, ehe er hieraus ein beispielreich fundiertes Plädoyer dafür ableitete, sich weder dem Primat des nationalhistorischen Paradigmas zu verschreiben noch auf jenes der Globalgeschichte umzusatteln, sonder beides, innergesellschaftliche und grenzünerschreitende Dynamik, "richtig" zusammenzuführen.

Dieser Ausblick lässt sich auch für den noch jungen Preis in Anspruch nehmen, dem es, nachdem er zweimal, 2002 an Lutz Niethammer und 2005 an Jürgen Kocka, mit dem obligaten NRW-Bonus des (zumindest ehemaligen) "Landeswissenschaftlers" verliehen wurde, Gewicht und Prestige geben dürfte, wenn er 2008 seinerseits Grenzen überschritte.

zit. nach:
Andreas Rossmann: Alles selber machen. Jürgen Kocka erhält den Bochumer Historikerpreis, in: FAZ, 28.11.2005, Nr. 277, S. 36

Der gefeierte Historiker
Jürgen Kocka erhält den diesjährigen Bochumer Historikerpreis

BERLIN (BLK) – Der Bochumer Historikerpreis, welcher herausragende Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschafts-und Sozialgeschichte ehren soll, wurde in diesem Jahr dem Berliner Historiker Prof. Dr. h.c. mult. Jürgen Kocka überreicht. Der mit 25 000 Euro dotierte Preis wurde seitens des Ministerpräsidenten des Landes Nordrhein-Westfalen, der Ruhr-Universität Bochum, der Stadt Bochum selbst sowie der Stiftung der Sparkasse Bochum und der Bibliothek des Ruhrgebiets verliehen. Die offizielle Preisverleihung fand am 25. November 2005 in Bochum statt.

Die maßgebliche Position des Historikers
Der Berliner Geschichtswissenschaftler Jürgen Kocka zählt seit den 1970er Jahren zu den führenden Köpfen einer Historikergeneration, welcher es gelang, die Identität der deutschen akademischen Geschichtswissenschaft neu zu charakterisieren. Der heute 64-Jährige studierte an der Freien Universität Berlin, wo er 1968 mit „einer grundlegenden Untersuchung über Unternehmensverwaltung und Angestelltenschaft bei Siemens“ promovierte. Bis zum heutigen Tage wird dieses Werk als eine Pionierstudie auf dem Gebiet der Unternehmensgeschichte verstanden. Anknüpfend an diesen Erfolg, legte Jürgen Kocka im Jahre 1972 als wissenschaftlicher Assistent an der Universität Münster eine vergleichende Untersuchung vor, welche die „politische Sozialgeschichte“ der Angestellten in den USA behandelte. Im Jahr darauf nahm er das Amt der „Professur für Allgemeine Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der Sozialgeschichte“ innerhalb der damals frisch gegründeten Universität Bielefeld an.

Bereits 1972 hatte der angehende Historiker jedoch begonnen, zu publizieren. In jenem Jahr veröffentlichte er eine umfassende und detaillierte Studie über die deutsche „Klassengesellschaft“ im Ersten Weltkrieg. In der kurz darauf erscheinenden Serie von Aufsätzen und Büchern analysierte er anschließend das Feld der neuen deutschen Sozialgeschichte. Letztgenannte Arbeiten stilisierten ihn zwei Jahrzehnte lang zum Oberhaupt der so genannten „Bielefelder Schule“, welche als „geschichtswissenschaftliche Erneuerung“ rasch in internationale Schlagzeilen gelangte. In Bielefeld übernahm Jürgen Kocka zeitweilig die Leitung des Zentrums für interdisziplinäre Forschung, wo er etliche Schüler zu Untersuchungen über die Sozialgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts motivierte. Zu großen Teilen ist ihm auch die Entstehung des heute berühmten Bielefelder Sonderforschungsbereiches über die „Sozialgeschichte des neuzeitlichen Bürgertums“ zuzuschreiben. Zeitgleich widmete sich der engagierte Wissenschaftler der „Geschichte der Arbeiter während der Industrialisierung“ und verfasste zwei einschlägige Bände zu diesem Thema. Ein ebenfalls von ihm zusammengestelltes Werk zur Grundlegung der modernen Sozialgeschichtsschreibung war lange Zeit ein wichtiger Bestandteil aller Proseminare der Fachrichtung. Eine große Anzahl von Sammelbänden, welche den Status von Arbeitern und Bürgern im Allgemeinen erörtern sowie die europäische Zivilgesellschaft und die deutsch-deutsche Vereinigungsproblematik analysieren, wurde ebenfalls unter seinem Namen publiziert.

Gesellschaftliche Selbstaufklärung
Im Jahre 1998 nahm der erfolgreiche Historiker eine neu geschaffene Professur zur Geschichte der industriellen Welt an der Freien Universität Berlin an. Dieses Amt ermöglichte es ihm, maßgeblich an der Umordnung der hauptstädtischen Geschichtswissenschaft mitzuwirken. In diesem Sinne richtete er beispielsweise das Zentrum für vergleichende Geschichte Europas ein. Zwei Jahre darauf gestand man ihm den Titel „Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin (WZB)“ zu. Diese Einrichtung wird als eine der größten sozialwissenschaftlichen Forschungseinrichtungen Europas gehandhabt. Die globale Bedeutung des deutschen Geschichtswissenschaftlers äußert sich zudem durch das Erlangen dreier Ehrendoktorhüte seinerseits, zahlreiche Mitgliedschaften in Akademien sowie durch seinen Vorsitz im internationalen Historikerverband.

Jürgen Kocka hat sich den Namen „public historian“ längst verdient gemacht. Durch sein Engagement bezüglich der Vergangenheitsbewältigung sowie der Geschichtspolitik wie auch innerhalb der Problematik des deutschen Nationalstaats und des Wandels der Erwerbsarbeit in der Gegenwart begreift er die Geschichtswissenschaft als einen unabdingbaren Faktor gesellschaftlicher Selbstaufklärung. Dies ist bezeichnend für seine Herangehensweise an die Besonderheiten der deutschen Geschichte, weiß die Ruhruniversität Bochum.

(Alma Roßmark)

Kopf der "Bielefelder Schule" ausgezeichnet

Zweiter Bochumer Historikerpreis wurde am Freitag an Professor Jürgen Kocka verliehen. Rede von Innovationsminister Pinkwart:

Von Holger Schmidt

Für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialgeschichte erhielt der Berliner Geschichtswissenschaftler Jürgen Kocka am Freitagabend den 2. Bochumer Historikerpreis der Stiftung der Bibliothek des Ruhrgebiets. Kocka gilt nicht nur unter seinen Schülern als "Public Historian" im besten Sinne. Als Wissenschaftler, Wissenschaftsmanager und als Präsident des Comité International des Sciences Historiques (CISH) hat er immer wieder in öffentliche Debatten der letzten beiden Jahrzehnte eingegriffen, vor allem zu Fragen der Vergangenheitsbewältigung und Geschichtspolitik.

Maßgeblich prägte der Präsident des Wissenschaftszentrums für Sozialforschung in Berlin die deutsche Wirtschafts- und Sozialgeschichtsschreibung der vergangenen 40 Jahre. Anfang der 70er Jahre wurde Jürgen Kocka im für Deutschland neuen Feld der Sozialgeschichte für zwei Jahrzehnte zu einem führenden Kopf der " Bielefelder Schule", die rasch für internationales Aufsehen sorgte. "Man kann Bielefeld nur mit raunendem Unterton sagen", erklärte sein Schüler Thomas Welskopp während einer Diskussionsrunde im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets auch für Nicht-Historiker anschaulich. "Es wird so geraunt, als wenn man zu einem Fußballfan Ronaldinho sagt."

Dass Kocka nicht in der damaligen Zeit stehen geblieben ist, sondern sich der Probleme des zusammenwachsenden Europas und einer globalisierten Welt angenommen hat, verdeutlicht schon das Thema seiner Dankesrede: "Sozialgeschichte im Zeitalter der Globalisierung." Zur Preisverleihung kam am Freitagabend auch der Schirmherr der Aktion, NRW-Innovationsminister Andreas Pinkwart, der über "Stärkung von Wissenschaft und Forschung durch private Initiative"sprach. Der Preis ist mit 25 000 Euro dotiert und wird von der Ruhr-Universität, der Stadt Bochum, der Stiftung der Sparkasse und der Stiftung Bibliothek des Ruhrgebiets vergeben.